Lot Nr. 785


Melchiorre Rusca Gherardini


Melchiorre Rusca Gherardini - Alte Meister

(Mailand 1607–1668)
Judith mit dem Kopf des Holofernes,
Öl auf Karton auf Leinwand, 45 x 34,5 cm, gerahmt

Wir danken Cristina Geddo für die Identifizierung des Künstlers.

Das vorliegende, bisher unveröffentlichte Gemälde, ist ein Werk von außerordentlicher visueller und psychologischer Wirkung, ein naturnahes und poetisches Bild zugleich: Der Kontrast zwischen der Reinheit des Mädchens und dem Kopf des Mannes eignet sich für eine feministische Interpretation ante litteram, die mit einer sinnbildlichen Umkehrung der Opfer- und Henkerrollen die Eigenschaften der Frauen hervorhebt und ihren Sieg über das dominante Geschlecht feiert.

Das Werk wurde in Öl auf Karton ausgeführt, einem Material also, das normalerweise für monochrome Entwürfe verwendet wird und daher in den Bereich der Graphik fällt; es scheint jedoch auf Grund der Verwendung von Farben als auch wegen der Vollkommenheit der Ausführung und der begrenzten Zahl an unfertigen Stellen nach der Selbständigkeit eines Staffelei-Gemäldes zu streben, das für ein Raritätenkabinett bestimmt ist. Der Karton ist auf eine leicht größere Leinwand geklebt; die Ränder unten und rechts sind geschickt miteinbezogen worden, um sowohl ihre Gebrauchspuren zu kaschieren, als auch den auf engem Raum komprimierten Figuren mehr Platz zu bieten.
Stilistisch lässt sich das Gemälde in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts einordnen, mit sowohl flämischen als auch lombardischen Einflüssen. Es ist kein Zufall, dass Ölentwürfe auf Karton als Vorbereitung auf großformatige Werke sowohl von Rubens als auch von Cerano und der darauf folgenden Generation von Malern wie Storer und Nuvolone verwendet wurden. Das Pathos des männlichen Kopfes sowie die Frauentypologie verraten gerade den Einfluss von Cerano, was eine Zuschreibung des Gemäldes an den Kreis des großen Mailänder Meisters nahelegt, dessen wichtigste Vertreter Melchiorre Rusca gen. Gherardini, Ceranos Schüler, Schwiegersohn und Erbe seiner Werkstatt war.
Im Hinblick auf die Ikonographie kann die weibliche Figur, die den Kopf wie eine Trophäe hält, keine andere als die tugendhafte Judith sein. Im Gegensatz zur perfiden Herodias wandte Judith ihre Kunst der Verführung und ihre List an, um ihr Volk vom Joch der Assyrer, die die Hebräer in Bethulien belagert hatten, zu befreien, indem sie den trunken eingeschlafenen Holofernes, den General Nebukadnezars, köpfte, nachdem sie ihn bezaubert und überlistet hatte (Judit, 8,1-16,25, insbes. 13,1-11).
Das biblische Sujet wird hier sehr originell in einer verinnerlichten Perspektive interpretiert. Die beiden Protagonisten sind in zeitgenössischer Kleidung dargestellt. Diese Poetik, die Kunst und Leben vermischt, geht auf Caravaggio zurück und wurde in der Lombardei von Tanzio da Varallo übermittelt. Diese Intention wird durch die markante physiognomische Charakterisierung der blutjungen Judit verstärkt, die ein Porträt anzudeuten scheint. Das einzige Ornament bilden die Locken mit goldenen Lichteffekten, welche die Spur der Pinselhaare auf der durchsichtigen Lasur des Hintergrunds meisterhaft nutzen. Diese ursprünglich wohl flämische Technik wird auch für Holofernes’ Augenbrauen verwendet. Es handelt sich also hierbei um eine ungewöhnliche Judith, die auf die verführerischen und dekorativen Komponenten der herkömmlichen Ikonographie nach der biblischen Erzählung - von Caravaggio bis hin zu Artemisia Gentileschi, Fede Galizia und Cairo - verzichtet und eine untadelige, beinahe reuevolle Interpretation des Themas anbietet.
Stilistisch liegt der Schwerpunkt des Gemäldes in dem dramatischen Kontrast zwischen den beiden diagonal stufig und sehr nahe angeordneten Köpfen. Dies ist ein Kompositionsschema, das man in Ceranos Martirio di sant’Agata in der Fondazione Longhi in Florenz wiederfindet. Das “Horror Vacui”, das die Dreidimensionalität der in engsten Raum gedrängten Figuren verstärkt, ist allerdings eher für Giulio Cesare Procaccini typisch, an dessen Stil Judits duftiges Haar erinnert. Ceranos Einfluss bekundet sich explizit in der pathetischen Darstellung von Holofernes’ Kopf, der im Vordergrund mittels einer beeindruckenden Untersicht perspektivisch verkürzt ist, die dem manieristischen Vorbild von Fede Galizias Judith mit dem Haupt des Holofernes (1596) im Ringling Museum of Art in Sarasota zu folgen scheint. Und dennoch übertrifft der offene Mund, auf dessen zwei hervorspringende, gespreizte Riesenzähne der Tod gleichsam sein höhnisches Siegel gelegt hat, auch den Schrei der bewaffneten Figur im Martirio di Santa Caterina in Santa Maria presso San Celso aus dem Jahr 1609 (bzgl. der Beziehungen zu Cerano und seinem Kreis, vgl. M. Rosci, Il Cerano, Mailand 2000; Il Cerano 1573-1632. Protagonista del Seicento lombardo, Ausstellungskatalog, hrsg. von M. Rosci, Mailand 2005, Nr. 59, 79, 81-82).
Sowohl die dominante Wirkung Ceranos, die von den Einflüssen Rubens‘, Procaccinis und Tanzios bereichert wurde, als auch die Kraft und die Qualität dieses Werkes legen eine Zuschreibung an Melchiorre Gherardini (1607-1668) nahe, einen hochtalentierten und vielseitigen Künstler, der viel zu lange im Schatten des Meisters geblieben ist.
Judits breites, rundes, vom Licht geblendetes Gesicht ist beinahe eine Signatur Gherardinis, vergleichbar mit dem San Sebastiano curato da Sant’Irene in einer Privatsammlung in Varese, das um 1535 datiert werden kann (M. Bona Castellotti, La pittura lombarda del‚ 600, Mailand 1985, Tafel 314). Typisch für den Maler sind auch die pastelligen Farben mit dem weiß und rosa des Inkarnats der Frau, die über Rubens, Cerano und Procaccini auf Barocci zurückgehen und durch die vorherrschenden gebrannten, erdigen Farbtöne hervorgehoben werden. Judiths Kopf findet ein für die Zuschreibung entscheidendes Echo im schlecht erhaltenen, ursprünglich unvollendeten Giuditta con la testa di Oloferne im Sant’Eustorgio Museum in Mailand, datierbar um 1635-37 (M. Bona Castellotti, Aggiunte al catalogo di Melchiorre Gherardini, in “Paragone”, 29, 345, 1978, S. 89, Tafel 68). Die beiden Figuren sind eng verwandt und teilen sogar die rosafarbenen Nuancierungen des Inkarnats und des schattierten Ohrs. Trotz dieser Verwandtschaft deuten die malerische Weichheit der Form und die Freiheit des Pinselstrichs auf eine fortgeschrittene Phase in Gherardinis Laufbahn hin, der sich nach Ceranos Tod im Jahr 1632 zunehmend vom anspruchsvollen Erbe seines Meisters befreit.
Aus den genannten Gründen könnte das vorliegende Gemälde in die 40er Jahre des 17. Jahrhunderts datiert werden. In Varallo kommt Gherardini mit Werken von Giovanni d’Errico, Morazzone und Tanzio da Varallo in Kontakt (vgl. F.R. Pesenti, Melchiorre Gherardini, dopo il Cerano, in “Pantheon”, IV, XXVI, 1968, S. 284-294), das in Judits ornamentfreier Echtheit und in Holofernes’ expressionistischem Realismus, der vielleicht auch mit Storer verbunden ist, eine deutliche Spur hinterlassen hat. Die weltlichen Fresken von Palazzo Durini markieren hingegen den Wendepunk des Künstlers zum Barock. Diese Entwicklung wurde auch durch Storer angeregt, der neue Rubenseinflüsse in die Lombardei brachte (vgl. C. Geddo, Collezionisti e mecenati a Milano tra Sei e Settecento: i Durini conti di Monza, in “Artes”, 9, 2001, S. 42-46, Abb. 8).
Im Jahr 1632 heiratete Gherardini Ceranos Tochter, die wahrscheinlich für die Judith in Sant’Eustorgio als Modell diente, während ihre Tochter, die ca. 1633 geborene Giulia Gherardini, möglicherweise das Vorbild für die vorliegende Judith bot.

Wir danken Cristina Geddo für die Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes.

15.10.2013 - 18:00

Erzielter Preis: **
EUR 12.500,-
Schätzwert:
EUR 10.000,- bis EUR 15.000,-

Melchiorre Rusca Gherardini


(Mailand 1607–1668)
Judith mit dem Kopf des Holofernes,
Öl auf Karton auf Leinwand, 45 x 34,5 cm, gerahmt

Wir danken Cristina Geddo für die Identifizierung des Künstlers.

Das vorliegende, bisher unveröffentlichte Gemälde, ist ein Werk von außerordentlicher visueller und psychologischer Wirkung, ein naturnahes und poetisches Bild zugleich: Der Kontrast zwischen der Reinheit des Mädchens und dem Kopf des Mannes eignet sich für eine feministische Interpretation ante litteram, die mit einer sinnbildlichen Umkehrung der Opfer- und Henkerrollen die Eigenschaften der Frauen hervorhebt und ihren Sieg über das dominante Geschlecht feiert.

Das Werk wurde in Öl auf Karton ausgeführt, einem Material also, das normalerweise für monochrome Entwürfe verwendet wird und daher in den Bereich der Graphik fällt; es scheint jedoch auf Grund der Verwendung von Farben als auch wegen der Vollkommenheit der Ausführung und der begrenzten Zahl an unfertigen Stellen nach der Selbständigkeit eines Staffelei-Gemäldes zu streben, das für ein Raritätenkabinett bestimmt ist. Der Karton ist auf eine leicht größere Leinwand geklebt; die Ränder unten und rechts sind geschickt miteinbezogen worden, um sowohl ihre Gebrauchspuren zu kaschieren, als auch den auf engem Raum komprimierten Figuren mehr Platz zu bieten.
Stilistisch lässt sich das Gemälde in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts einordnen, mit sowohl flämischen als auch lombardischen Einflüssen. Es ist kein Zufall, dass Ölentwürfe auf Karton als Vorbereitung auf großformatige Werke sowohl von Rubens als auch von Cerano und der darauf folgenden Generation von Malern wie Storer und Nuvolone verwendet wurden. Das Pathos des männlichen Kopfes sowie die Frauentypologie verraten gerade den Einfluss von Cerano, was eine Zuschreibung des Gemäldes an den Kreis des großen Mailänder Meisters nahelegt, dessen wichtigste Vertreter Melchiorre Rusca gen. Gherardini, Ceranos Schüler, Schwiegersohn und Erbe seiner Werkstatt war.
Im Hinblick auf die Ikonographie kann die weibliche Figur, die den Kopf wie eine Trophäe hält, keine andere als die tugendhafte Judith sein. Im Gegensatz zur perfiden Herodias wandte Judith ihre Kunst der Verführung und ihre List an, um ihr Volk vom Joch der Assyrer, die die Hebräer in Bethulien belagert hatten, zu befreien, indem sie den trunken eingeschlafenen Holofernes, den General Nebukadnezars, köpfte, nachdem sie ihn bezaubert und überlistet hatte (Judit, 8,1-16,25, insbes. 13,1-11).
Das biblische Sujet wird hier sehr originell in einer verinnerlichten Perspektive interpretiert. Die beiden Protagonisten sind in zeitgenössischer Kleidung dargestellt. Diese Poetik, die Kunst und Leben vermischt, geht auf Caravaggio zurück und wurde in der Lombardei von Tanzio da Varallo übermittelt. Diese Intention wird durch die markante physiognomische Charakterisierung der blutjungen Judit verstärkt, die ein Porträt anzudeuten scheint. Das einzige Ornament bilden die Locken mit goldenen Lichteffekten, welche die Spur der Pinselhaare auf der durchsichtigen Lasur des Hintergrunds meisterhaft nutzen. Diese ursprünglich wohl flämische Technik wird auch für Holofernes’ Augenbrauen verwendet. Es handelt sich also hierbei um eine ungewöhnliche Judith, die auf die verführerischen und dekorativen Komponenten der herkömmlichen Ikonographie nach der biblischen Erzählung - von Caravaggio bis hin zu Artemisia Gentileschi, Fede Galizia und Cairo - verzichtet und eine untadelige, beinahe reuevolle Interpretation des Themas anbietet.
Stilistisch liegt der Schwerpunkt des Gemäldes in dem dramatischen Kontrast zwischen den beiden diagonal stufig und sehr nahe angeordneten Köpfen. Dies ist ein Kompositionsschema, das man in Ceranos Martirio di sant’Agata in der Fondazione Longhi in Florenz wiederfindet. Das “Horror Vacui”, das die Dreidimensionalität der in engsten Raum gedrängten Figuren verstärkt, ist allerdings eher für Giulio Cesare Procaccini typisch, an dessen Stil Judits duftiges Haar erinnert. Ceranos Einfluss bekundet sich explizit in der pathetischen Darstellung von Holofernes’ Kopf, der im Vordergrund mittels einer beeindruckenden Untersicht perspektivisch verkürzt ist, die dem manieristischen Vorbild von Fede Galizias Judith mit dem Haupt des Holofernes (1596) im Ringling Museum of Art in Sarasota zu folgen scheint. Und dennoch übertrifft der offene Mund, auf dessen zwei hervorspringende, gespreizte Riesenzähne der Tod gleichsam sein höhnisches Siegel gelegt hat, auch den Schrei der bewaffneten Figur im Martirio di Santa Caterina in Santa Maria presso San Celso aus dem Jahr 1609 (bzgl. der Beziehungen zu Cerano und seinem Kreis, vgl. M. Rosci, Il Cerano, Mailand 2000; Il Cerano 1573-1632. Protagonista del Seicento lombardo, Ausstellungskatalog, hrsg. von M. Rosci, Mailand 2005, Nr. 59, 79, 81-82).
Sowohl die dominante Wirkung Ceranos, die von den Einflüssen Rubens‘, Procaccinis und Tanzios bereichert wurde, als auch die Kraft und die Qualität dieses Werkes legen eine Zuschreibung an Melchiorre Gherardini (1607-1668) nahe, einen hochtalentierten und vielseitigen Künstler, der viel zu lange im Schatten des Meisters geblieben ist.
Judits breites, rundes, vom Licht geblendetes Gesicht ist beinahe eine Signatur Gherardinis, vergleichbar mit dem San Sebastiano curato da Sant’Irene in einer Privatsammlung in Varese, das um 1535 datiert werden kann (M. Bona Castellotti, La pittura lombarda del‚ 600, Mailand 1985, Tafel 314). Typisch für den Maler sind auch die pastelligen Farben mit dem weiß und rosa des Inkarnats der Frau, die über Rubens, Cerano und Procaccini auf Barocci zurückgehen und durch die vorherrschenden gebrannten, erdigen Farbtöne hervorgehoben werden. Judiths Kopf findet ein für die Zuschreibung entscheidendes Echo im schlecht erhaltenen, ursprünglich unvollendeten Giuditta con la testa di Oloferne im Sant’Eustorgio Museum in Mailand, datierbar um 1635-37 (M. Bona Castellotti, Aggiunte al catalogo di Melchiorre Gherardini, in “Paragone”, 29, 345, 1978, S. 89, Tafel 68). Die beiden Figuren sind eng verwandt und teilen sogar die rosafarbenen Nuancierungen des Inkarnats und des schattierten Ohrs. Trotz dieser Verwandtschaft deuten die malerische Weichheit der Form und die Freiheit des Pinselstrichs auf eine fortgeschrittene Phase in Gherardinis Laufbahn hin, der sich nach Ceranos Tod im Jahr 1632 zunehmend vom anspruchsvollen Erbe seines Meisters befreit.
Aus den genannten Gründen könnte das vorliegende Gemälde in die 40er Jahre des 17. Jahrhunderts datiert werden. In Varallo kommt Gherardini mit Werken von Giovanni d’Errico, Morazzone und Tanzio da Varallo in Kontakt (vgl. F.R. Pesenti, Melchiorre Gherardini, dopo il Cerano, in “Pantheon”, IV, XXVI, 1968, S. 284-294), das in Judits ornamentfreier Echtheit und in Holofernes’ expressionistischem Realismus, der vielleicht auch mit Storer verbunden ist, eine deutliche Spur hinterlassen hat. Die weltlichen Fresken von Palazzo Durini markieren hingegen den Wendepunk des Künstlers zum Barock. Diese Entwicklung wurde auch durch Storer angeregt, der neue Rubenseinflüsse in die Lombardei brachte (vgl. C. Geddo, Collezionisti e mecenati a Milano tra Sei e Settecento: i Durini conti di Monza, in “Artes”, 9, 2001, S. 42-46, Abb. 8).
Im Jahr 1632 heiratete Gherardini Ceranos Tochter, die wahrscheinlich für die Judith in Sant’Eustorgio als Modell diente, während ihre Tochter, die ca. 1633 geborene Giulia Gherardini, möglicherweise das Vorbild für die vorliegende Judith bot.

Wir danken Cristina Geddo für die Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes.


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

+43 1 515 60 403
Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 15.10.2013 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 05.10. - 15.10.2013


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

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